Der HSV steigt ab, aber keiner darf drüber reden

13.02.2014 00:00

Die Sonne strahlt über der Imtech Arena. Angesichts der prekären Situation ist aber trotzdem Gewitterstimmung beim HSV. Heute Abend kommen auch noch ausgerechnet die großen Bayern in den Norden. BTB-Reporter Annabell Behrmann und Jonas Giesenhagen gingen vor dem Spiel auf Stimmenfang. Nicht etwa bei Oliver Kreuzer oder Bert van Marwijk, die das sinkende Schiff erst vor kurzem betreten haben, sondern bei den Leuten, die schon seit Jahren abseits des Rampenlichtes für den HSV arbeiten. Wie geht es ihnen in dieser Situation, müssen sie bei einem Abstieg um ihren Job fürchten? 

Die ersten Pressevertreter treffen ein, Ordner riegeln die Parkplätze ab. Beim Hamburger SV steigt die Anspannung vor dem Viertelfinalspiel im DFB-Pokal. Wir wollen wissen, was in den Menschen vorgeht, die nicht im Rampenlicht stehen und saftige Gehälter vom Vorstand finanziert bekommen. 

Beim Verein selbst stehen wir zunächst vor verschlossenen Türen. Es herrscht eine zurückhaltende Stimmung, beinahe erdrückend. Im stadioneigenen Ticketcenter werden wir zunächst freundlich empfangen. „Hey, Ihr wollt bestimmt Tickets kaufen?!“ Nein. Eigentlich wollen wir uns nur mit jemanden darüber unterhalten, wie die Stimmung bei den Leuten ist, die täglich für ihren Verein bei der Arbeit alles geben. Zu einer Aussage ist jedoch niemand bereit. Auch im Stadionmuseum fällt die Begrüßung freundlich aus, mit uns reden möchte allerdings auch hier niemand. Macht der HSV seine eigenen Mitarbeiter mundtot oder möchte man uns schlicht keine Auskunft geben? Wir fragen in der Geschäftsstelle nach. Als wir uns bei der Dame am Empfangstresen erkundigen, warum niemand mit uns reden dürfe, werden wir zurückgewiesen. Mit den Worten, dass angesichts des großen Spiels heute Abend wohl keiner einen Nerv dazu hätte, verabschiedet sie sich von uns. Ja, es sind eben alle ein wenig angespannt beim HSV. 

Auf dem Parkplatz vor der Imtech Arena werden wir aber dann doch fündig. Ein Ordner, der am Stadion für die Parkplatzanweisung zuständig ist, erklärt sich nachkurzem Bedenken dazu bereit, sich mit uns zu unterhalten. Er arbeitet für eine Sicherheitsfirma, die seit Jahren Partner des Hamburger SV ist. Unter seiner strahlend-gelben Uniform trägt er die Raute im Herzen. Wenn er nicht arbeiten muss, ist der Parkplatzwächter selbst im Stadion. Die aktuelle Situation sieht er mit gemischten Gefühlen. Natürlich ist er sich über den Ernst der Lage bewusst, aber wie bei allen Fans stirbt die Hoffnung zuletzt. Gedanken macht er sich vor allem über die Situation in den Köpfen der Spieler und Verantwortlichen. Die meisten seien sich nicht bewusst, dass auch vor den Einlasstoren der Imtech Arena viele Leute vom HSV abhängig sind. Zu möglichen Auswirkungen sagt der Mann, der anonym bleiben möchte, weil er eigentlich auch nicht mit den bösen Medienvertretern reden darf: „Falls der Verein absteigt, weiß man natürlich nicht, ob aus unserer Firma noch so viele Leute gebraucht werden, wenn weniger Zuschauer kommen.“ 

Das ist der springende Punkt: Die sinkenden Zuschauerzahlen machen sich nicht nur in den Kassen des Vereins bemerkbar, sondern auch bei allen Arbeitern, die teilweise nicht direkt beim HSV angestellt sind, sondern indirekt für den Traditionsclub arbeiten. So auch die gastronomischen Betriebe. 

Carsten Runge betreibt in der Nähe des Stadions einen Bierstand. Er hat sich das Grundstück gekauft, bringt jedes Heimspiel Höchstleitungen für hunderte von Fans. Zumindest das Bier leistet den gewünschten Effekt, wenn schon nicht die Spieler auf dem Platz. Der Standbesitzer ist hauptberuflich Pilot, Bier verkaufen tut er nur als Nebenjob und ist damit wirtschaftlich nicht ausschließlich vom HSV abhängig. Ärgerlich für ihn wäre lediglich, dass er dann Montagabends arbeiten müsste…

Mario Drifte hingegen bangt um seine Existenz. Er hat vor zwei Jahren die Bar „Unabsteigbar“ am Bahnhof Stellingen eröffnet. Mit viel Herzblut und einer Menge Geld hat er die komplette Kneipe zu einer HSV-Bar renoviert. Liebevolle Malereien vom Volksparkstadion und unzählige Schals zieren die Wände. Der Kneipenbesitzer ist auf die Fans angewiesen, die vor und nach dem Spiel seine Bar besuchen. „Wir leben von den 20 Heimspielen, die der HSV hat.“ Bewusst scheint dem Verein dieses Ausmaß seiner Meinung nach aber nicht zu sein: „Die wissen gar nicht, was dahinter steckt. Es ist eben nicht nur der Verein und das Merchandising, sondern es existieren viele um den HSV herum, die nicht direkt angestellt sind.“ Wenn die Hamburger nun also tatsächlich absteigen sollten, würde das für Mario Drifte weniger Kundschaft bedeuten, der Bierlieferant würde abspringen und zwangsläufig müsste er Angestellte entlassen. Eine Kettenreaktion, die weitaus mehr in die Tiefe geht, als die meisten denken. Dabei ist Mario Drifte nur ein kleiner Zweig des „Großen HSV“. 

Die schlechte Leistung der Mannschaft löst schlechte Stimmung bei den Fans aus - das bekommt auch der Kneipenboss zu spüren: „Wenn die Leute gefrustet vom Spiel kommen, ist das Bier auf einmal schal, die Cola schmeckt nicht…“ Auf die Frage, was denn passieren muss, damit die Hanseaten wieder aus der Krise kommen, bricht er in Gelächter aus. „Es ist schwer, die Karre wieder aus dem Dreck zu holen. Die Leistung der Mannschaft grenzt an Arbeitsverweigerung. In normalen Betrieben als Bäcker oder Maurer wären sie schon längst arbeitslos.“ Mario Drifte ist ein sehr herzlicher und offener Mensch. Er gibt alles für seinen Job und genau dasselbe erwartet er auch vom HSV. In seiner Kneipe sorgt er dafür, dass sich die Fans wohlfühlen. Die Gemütlichkeit und das Beisammensein gehört für viele Anhänger zum Fan-Sein dazu.

Das gesamte Prinzip funktioniert wie bei einem Kartenhaus: Die HSV-Kneipe ist scheinbar nur ein kleiner Teil eines großen Ganzen, aber wenn auch nur eine Karte fehlt, fällt alles in sich zusammen und das gesamte Haus stürzt ein.

 

Von Jonas Giesenhagen und Annabell Behrmann